Als Ende März in einer Düsseldorfer Notfallpraxis ein Patient auf den diensthabenden Arzt losging, hatte dieser Glück im Unglück: Ausgebildet in Judotechniken, konnte er den Angreifer, einen mutmaßlich psychisch kranken Mann, abwehren und gemeinsam mit einem Kollegen in Schach halten, bis die Polizei eintraf. Der Vorfall löste in der Rheinstadt eine Debatte aus, wie sie mittlerweile bundesweit geführt wird: Wie sicher sind Ärzte, Notfallsanitäter und Pflegekräfte bei der Ausübung ihrer Arbeit? Müssen sie besser geschützt werden – oder aber: lernen, sich selbst besser zu schützen?

Der Ärztliche Nachrichtendienst hatte dazu im vergangenen Jahr eine Umfrage unter Arztpraxen initiiert: Von 891 niedergelassenen Haus- und Fachärzten berichtete knapp die Hälfte, dass ihre Praxismitarbeiter mindestens einmal wöchentlich aggressives Gebaren und Beleidigungen durch Patienten erlebten, etwa ein Fünftel der Ärzte wurde selbst schon von Patienten beleidigt oder beschimpft. Körperliche Gewalt erlebte bereits ein Viertel der Mediziner in der eigenen Praxis; 23 Prozent hätten auch schon einmal die Polizei rufen müssen.

Zuletzt machte auch der Ärztemonitor Furore, der sich in diesem Jahr erstmals – in Auftrag gegeben von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) – dem Thema Gewalt widmete: Für die Studie wurden mehr als 7000 Ärzte um ihre Erfahrungen gebeten, gut 1900 von ihnen berichteten, schon einmal körperliche Gewalt in ihrem Arbeitsleben erfahren zu haben. So zumindest das erste Zwischenergebnis, das die KBV im Mai veröffentlichte. Nur hat diese Studie jedoch den kleinen Schönheitsfehler, dass – noch bevor sie wirklich abgeschlossen war (finale Zahlen werden für September dieses Jahres erwartet) – ihre Seriösität in Frage gestellt werden musste: Im offensichtlichen Bemühen, die Ergebnisse plastischer darzustellen, das Vorkommen von körperlichen Angriffen in Arztpraxen auf den Tag herunterzubrechen nämlich, schrieb die KBV von „288 Fällen täglich“ – ein Fehler, wie sie sich später von der Wochenzeitung „Die Zeit“ vorrechnen lassen musste. Die KBV lenkte ein, korrigierte, spricht nun von nur noch 75 Fällen pro Tag.

Nur noch? Natürlich ist es so, wie auch „Die Zeit“ in ihrem Artikel einräumt: Selbst wenn die Zahl der täglichen Vorfälle im zwei- statt dreistelligen Bereich liegt – jeder einzelne dieser Fälle ist einer zu viel. Denn jeder Vorfall steht für ein belastendes Erlebnis, im besten Falle Schrecken, im schlimmsten Falle Schmerz und körperliche oder psychische Verwundung, recht wahrscheinlich auch für den Verlust des Sicherheitsgefühls, dass einem doch hier, bei der Ausübung der täglichen Arbeit, nichts passieren könne.
Dass diese Sicherheit täuscht, weiß Dr. Florian Vorderwülbecke. Der Allgemeinmediziner aus dem bayerischen Oberhaching wurde vor acht Jahren bei einem Hausbesuch bedroht: Der Patient zückte plötzlich ein Messer, wollte so seine Einweisung in eine Klinik erzwingen. Nach diesem Erlebnis wurde dem Mediziner klar, dass sich etwas ändern muss, dass wenigstens ein Überblick her muss über das, was in Deutschland zwischen Patienten und Ärzten geschieht, eine Einschätzung der Gefahr, der Ärzte und ihre Mitarbeiter ganz augenscheinlich ausgesetzt sind.
Gemeinsam mit der TU München, an deren Institut für Allgemeinmedizin er lehrt, entwickelte Vorderwülbecke daher 2015 einen Fragebogen, ließ sich von 831 Kollegen ihre Erfahrungen schildern. Mehr als jeder zehnte der Befragten gab an, in den zurückliegenden zwölf Monaten mit schwerer Aggression oder Gewalterfahrung konfrontiert gewesen zu sein. Leichte oder mittelstarke Aggression hatte sogar mehr als die Hälfte der Befragten erlebt (51 bzw. 57 Prozent). „Das konnten Beleidigungen sein oder Beschimpfungen“, so Vorderwülbecke. „Aber auch Bedrohungen, sexuelle Belästigungen, Sachbeschädigung und Diebstahl.“ Zu den schweren Vorfällen zählten hingegen die Bedrohung oder der Angriff mit einem Gegenstand, etwa einer Waffe, oder auch „ausgeprägte körperliche Gewalt“ (beides hatten acht Prozent jemals erlebt bzw. drei Prozent in den vorausgegangenen zwölf Monaten). Die aggressiven Vorfälle ereigneten sich vor allem in den eigenen Praxisräumen: Da wurde der PC des Mediziners zertreten, wurde im Wartezimmer randaliert, ein Brieföffner in die Theke gerammt; da bekam ein Arzt Faustschläge ab, als er sich schützend vor seine Arzthelferin stellte.

Patienten fühlen sich zurückgesetzt und gekränkt

Die Ursachen, gar Gründe für solches Verhalten sind schwer auszumachen, sagt Vorderwülbecke: „Erleben wir hier die Folgen einer Verrohung der Gesellschaft? Oder nimmt die Gewalt gerade gegen Heilberufler zu?“ Diese Fragen seien seiner Ansicht nach schwer zu beantworten – vor allem deshalb, weil es frühere Studien zur Lage in Deutschland und mithin mögliche Vergleichswerte nicht gebe.

Ärztefunktionäre waren nach der Teilveröffentlichung des Ärztemonitors gleichwohl schnell mit Erklärungen zur Stelle: Für Andreas Gassen, KBV- Vorstandsvorsitzender, ist die Ursache klar: Ärzte würden verbal kriminalisiert, es brauche sich also keiner zu wundern, „wenn dies zur Gewalt in Praxen führt“. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes, der Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands, macht neben einer „allgemeinen Verrohung“ auch ein gestiegenes Anspruchsdenken als Ursache für die Gewalt aus. Das würde auch Vorderwülbecke als möglichen Hintergrund gelten lassen: Aus früher „geduldigen Patienten“ seien anspruchsvolle Kunden geworden. Sie nehmen aus ihrer Sicht eine Dienstleistung in Anspruch – die dann gefälligst, so kennen sie es schließlich aus Hotellerie oder Gastronomie, schnell zu erfolgen habe. Der Patient etwa, der den Arzt-PC zertrampelte, hatte
den Mediziner zuvor beschimpft und sich bei ihm lautstark über die lange Wartezeit echauffiert. „Patienten, die länger warten müssen, fühlen sich oft zurückgesetzt, fremdbestimmt in ihrem Zeitmanagement und gekränkt“, so Vorderwülbecke. Intransparente Prozesse, etwa beim Wartezimmermanagement,
tun ihr Übriges: Der Patient versteht nicht, warum andere Patienten vor ihm an die Reihe kommen, ärgert sich. Und manch einer wird dann aggressiv.

Beißen, Kratzen, Schlagen: alltägliche Bedrohungen für Pflegekräfte

Noch mehr Spannung herrscht in den Krankenhäusern, auf den Stationen, an den Pflegebetten. Darauf machen die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) sowie das Kompetenzzentrum für Epidemiologie und Versorgungsforschung bei Pflegeberufen (CVcare) aufmerksam. Gerade veröffentlichten die Institute eine gemeinsame Untersuchung unter knapp 2000 Pflegekräften verschiedener Einrichtungen. Danach haben
97 Prozent von 500 befragten Krankenpflegekräften in den vorausgegangenen zwölf Monaten verbale Angriffe erlebt. 76 Prozent berichteten außerdem über körperliche Gewalt: Sie seien von Patienten geschlagen oder gekratzt, mitunter auch gebissen worden – in etwas über der Hälfte der Fälle blieben sichtbare Wunden zurück. Gut ein Viertel der Verletzten suchte einen Arzt auf.

Die Konflikte erwachsen hier, so die Wissenschaftler, aus der besonderen Beziehung zwischen Patient und Pflegekraft: Der eine sei abhängig vom anderen, und zwar stark asymmetrisch. In dieser Schieflage seien aggressive Verhaltensweisen manchmal die einzig mögliche Form für den Betreuten, sich zu äußern. Alarmierend für die Wissenschaftler sei vor allem eine auffällige Tendenz: Schon acht Jahre zuvor hatten sie in einer ersten Studie die Gewalterfahrungen von Pflegekräften unter die Lupe genommen – um heute festzustellen, dass deren Häufigkeit inzwischen um zehn bis zwanzig Prozent zugenommen habe.

Deeskalation lässt sich lernen

Doch die Autoren haben auch gute Nachrichten. Wurden Angriffe auf Beschäftigte im Gesundheitswesen früher totgeschwiegen oder bagatellisiert, beschäftigten sich Krankenhäuser nun damit, bringen solche Vorfälle offener zur Sprache – und bereiten auf etwaige weitere Attacken vor: Rund 40 Prozent der Befragten hätten zum Beispiel an einem Deeskalationstraining teilgenommen. Noch sei unklar, ob solche Schulungen helfen können, Angriffe zu verhindern, räumt Anja Schablon vom CVcare ein. Doch geschulte Pflegekräfte – das habe ihre Untersuchung gezeigt –, könnten im Falle eines Angriffs besser mit der nachfolgenden Belastung umgehen, den Stress besser verarbeiten.

Ähnlich denkt der Arzt Florian Vorderwülbecke, der sich noch während der Arbeit an seiner Studie entschieden hat, selbst solche Fortbildungen – in Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern – durchzuführen. Sein Ziel: Medizinische Fachkräfte so vorzubereiten, dass sie von aggressivem Verhalten möglichst nicht überrascht werden und souverän auf eine Gefahrensituation reagieren können. In seinen Schulungen lernen die Teilnehmer zum Beispiel einzuschätzen, ob sie in einer brenzligen Situation überhaupt wieder Zugang zu einem Patienten bekommen können. Auch macht er  ihnen bewusst, dass es manchmal hilft, physisch etwas Abstand zwischen sich und die aufgebrachte Person zu bringen. Der Umgang mit aggressivem Verhalten lasse sich über diverse Eskalationsstufen festlegen und üben, sagt Vorderwülbecke.

Der Mediziner sieht aber auch den Arbeitgeber, gleich ob Klinik oder Praxis, in der Pflicht: Er müsse eine Gefährdungsbeurteilung durchführen und dabei die  Möglichkeit einbeziehen, dass Patienten gewalttätig werden können. Und handeln: In den Praxisräumlichkeiten sind zum Beispiel getrennte Rezeptions- und  Wartebereiche und Fluchtwege wünschenswert. „Räumliche Enge“, so warnt der Arzt, „fördert Aggressionsverhalten“, vor allem, wenn Rückzugsmöglichkeiten fehlten. Auch rät Vorderwülbecke zu Alarmsystemen sowie dazu, robuste Gegenstände, die als Waffe oder Wurfgeschoss missbraucht werden könnten, außerhalb der Reichweite von Patienten zu platzieren.

Übertriebene Vorsicht? Überzogene Angst? Vorderwülbecke winkt ab. „Ich möchte jedem Praxisinhaber sagen: Machen Sie sich bewusst, dass Aggression gegen medizinisches Personal vorkommt.“ Und er schiebt nach: „Und dass es auch Sie und Ihr Team treffen kann.“

Gewalt – und ihre Folgen

Beleidigt werden oder beschimpft, gebissen oder gekratzt – Angriffe dieser Art gehen nicht spurlos an den Betroffenen vorüber. Zurück bleiben, das haben die Wissenschaftler der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) in ihrer Studie unter Pflegekräften ermittelt, vor allem Irritation und Ärger. Doch auch Enttäuschung, Selbstzweifel und Angst machen sich breit. Knapp ein Fünftel der angegriffenen Klinikpflegekräfte gab an, ihr Vertrauen im Umgang mit Patienten verloren zu haben. Manche sagten, ihre Motivation und Zufriedenheit im Job hätten durch die Aggressivität nachgelassen.

Was kann helfen? Aufgefangen werden, Zuflucht, Verständnis. Zeit dafür, den Vorfall zu verarbeiten, unter Umständen auch professionelle Hilfe. Arbeitgeber und Betroffene sollten wissen, dass Gewalt am Arbeitsplatz versicherungsrechtlich als Arbeitsunfall gilt. Darauf weist die BGW ausdrücklich hin. Jährlich führen gewaltbehaftete Ereignisse im Job bei 17.000 Beschäftigten zu einer längeren Arbeitsunfähigkeit.

Arbeitgeber sind verpflichtet, der Unfallversicherung den Vorfall zu melden, wenn der Mitarbeiter aufgrund des Vorfalls länger als drei Tage arbeitsunfähig ist. Doch die BGW rät daneben, jeden Übergriff im Betrieb zu dokumentieren, selbst wenn keine unmittelbare Arbeitsunfähigkeit vorliege. Nur so könne die Einrichtung Problembereiche erkennen und Schutzmaßnahmen einführen oder verbessern.

Text: Romy König

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