Nur zehn Prozent der Medizinstudenten erwägen eine Niederlassung in der Provinz. Mit Förderprogrammen und Stipendien stemmen sich Länder gegen das, was unweigerlich droht: Unterversorgung auf den Dörfern.
Der Blick reicht weit für den, der auf dem Flügger Leuchtturm steht: Salzwiesen, Schilf, Strände, weit hinten das Gelb der Rapsfelder, und etwas näher: das schimmernde Blau der Ostsee. Fehmarn, drittgrößte Insel der Republik. Hier eine Weile rasten, mag der Städter seufzen. Hier urlauben. Bleiben.
Bleiben? Für länger gar? Hier arbeiten, eine Praxis führen, Patienten versorgen? Mitten auf der Insel, mitten auf dem Land? Für Janine Feurer war das keine Frage. Sie ließ das städtische Leben in Hannover, wo sie Medizin studiert hatte, hinter sich, verabschiedete sich von Theater, Ballett und Cafébesuchen und übernahm auf der schleswig-holsteinischen Insel eine Hausarztpraxis. Eine Bauchentscheidung, sagt sie.
Die große Mehrheit ihrer Kollegen kann einen solchen Schritt nicht nachvollziehen; sie treibt es in urbanere Gefilde. Wie die Deutsche Apotheker- und Ärztebank (apo-Bank) 2017 in einer Studie unter hausärztlichen Existenzgründern herausfand, wollen 39,6 Prozent der jungen Mediziner eine Praxis in einer Großstadt eröffnen. Jeweils ein Viertel der Befragten zieht es in eine mittelgroße oder wenigstens eine Kleinstadt. Aufs Land zu gehen, können sich nur 10,3 Prozent der Berufsstarter vorstellen. Zwar ist diese Zahl im Vergleich zur letzten Befragung zwei Jahre zuvor um einen Prozentpunkt gestiegen. „Doch eine Entwarnung gibt es nicht“, kommentiert Daniel Zehnich, Bereichsleiter Gesundheitsmärkte und -politik der apoBank.
Glücksfall Landliebhaber
Den ländlichen Gebieten gehen die Ärzte aus. Besonders flächenreiche Bundesländer wie Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern sind betroffen. Oder eben auch Schleswig-Holstein, wo sich die Neu-Fehmarnerin Janine Feurer niedergelassen hat. Sie übernahm die Praxis eines Hausarztes, der sich zur Ruhe setzen wollte. Ein Glück für den Mediziner, der nach eigenen Angaben drei Jahre langnach einem Nachfolger gesucht hatte, und ein Glück für
die Insel. Andere norddeutsche „Mittelbereiche“, wie die Planungssektoren in der hausärztlichen Versorgung heißen, sind schlechter dran: Im nordfriesischen Husum etwa sind derzeit zwölf Hausarztsitze offen.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen versuchen schon seit Jahren gegenzusteuern, setzen Programme auf, um Jungmediziner in ländliche Regionen zu locken. Die KV Schleswig-Holstein warb schon ab 2011 mit der Kampagne „Land.Arzt.Leben!“ um Nachwuchs, bemühte Attribute wie den „abwechslungsreichen Praxisalltag“, das „sehr persönliche Patientenverhältnis“ und den Vorzug, vor Ort der „erste Ansprechpartner rund ums Thema Gesundheit“ zu sein. Dass dies keine reinen Marketingfloskeln sind, bestätigt Janine Feurer. Denn genau dies schätze sie tatsächlich an ihrem Job: Untersuchungen oder Behandlungen durchführen zu können, für die sie als Stadtärztin zu einem Facharzt überweisen würde, ob Ultraschall oder Ohrenspülung. Daneben preist sie aber auch die hohe Lebensqualität auf dem Land, ihr Leben auf dem Bauernhof; ihr Partner ist Landwirt.
Jetzt wird mit Geld gelockt
Doch nun in Zukunft auf weitere Provinzliebhaber unter den Medizinern, auf Glücksfälle eben, zu hoffen, wäre fatal. So müssen Lösungen her, besser noch: finanzielle Anreize. Während Nordrhein-Westfalen jüngst die Landarztquote eingeführt hat, hat jedes Bundesland mittlerweile ein Förderprogramm oder Stipendium aufgelegt, um Medizinstudenten in Richtung rurale Regionen zu bewegen: Die KV Mecklenburg-Vorpommern etwa gewährt Investitionskostenzuschüsse bei einer Niederlassung in einer unterversorgten Region von bis zu 75.000 Euro. Das dortige Landesgesundheitsministerium bietet einigen seiner 4000 Medizinstudenten außerdem Stipendien: 300 Euro überweist ihnen das Land monatlich aufs Konto. Bedingung: Sie verpflichten sich, später mindestens fünf Jahre lang in Mecklenburg-Vorpommern zu bleiben und hier im ländlichen Raum zu praktizieren, gleich ob in der Klinik, einer Praxis oder dem öffentlichen Gesundheitsdienst. Denn auch in diesem nordöstlichen Bundesland ist die Lage angespannt: Von den derzeit in Mecklenburg-
Vorpommern praktizierenden 1200 Hausärzten werden voraussichtlich 35 Prozent in den nächsten sechs bis 15 Jahren in den Ruhestand gehen, rechnete Gesundheitsminister Harry Glawe (CDU) im Juni während einer Landtagssitzung vor. Der Opposition reichen deshalb die gesetzten Anreize nicht, der Gesundheitspolitische Sprecher der Linksfraktion, Torsten Koplin, spricht von aktuell 129 fehlenden Hausärzten und weist nach Sachsen. Hier zahlt das Land 20 jungen Medizinstudenten eine monatliche Summe von 1000 Euro, für die Dauer der gesamten Regelstudienzeit. Dafür müssen die Stipendiaten an einem Patenschaftsprogramm mit einer hausärztlichen Praxis teilnehmen, in der sie für 24 Tage im Jahr die Tätigkeit des niedergelassenen Arztes und die Organisation seiner Hausarztpraxis kennenlernen; als ausgebildete Allgemeinmediziner müssen sie schließlich sechs Jahre als Hausarzt in Sachsen arbeiten. Die sächsischen Ballungsräume wie Dresden, Leipzig oder Chemnitz sind davon ganz explizit ausgeschlossen. Solche finanzstarken Stipendien brauche es auch in Mecklenburg-Vorpommern, so der Linke-Politiker Koplin. Auch Gesundheitsminister Glawe räumte ein, dass weitere „intensive Kraftanstrengungen“ in seinem Land nötig seien. „Wir brauchen individuelle Lösungen für einzelne Regionen.“
Kreise und Kliniken zeigen Eigeninitiative
Wie einzelne Regionen aktiv werden können, macht der Vogelsbergkreis am östlichen Rand von Hessen vor: Seit 2016 bietet der Kreis vier Medizinstudenten, die bereits den ersten Abschnitt der ärztlichen Prüfung abgeschlossen haben, ab dem fünften Semester bis zum Ende der Regelstudienzeit 400 Euro Unterstützung pro Monat. Auch hier gilt: danach bitte bleiben. Nicht nur müssen die Teilnehmer des sogenannten „Medizin-Plus“-Programms ihre Weiterbildung zum Allgemeinmediziner im Vogelsbergkreis absolvieren, auch verpflichten sie sich, sich anschließend für mindestens drei Jahre als Hausarzt im Kreisgebiet niederzulassen. Hinter dem Stipendium steckt der „Weiterbildungsverbund des Vogelsbergkreises für Allgemeinmedizin“, ein Zusammenschluss von 17 niedergelassenen Hausärzten, der sich der Fortbildung von Ärzten verschrieben hat. Auch drei regionale Kliniken gehören dem Verbund an, darunter das Krankenhaus Eichhof in der Kreisstadt Lauterbach. Die 240-Betten-Einrichtung hatte bereits 2011 die Idee, sich langfristig Mitarbeiternachwuchs per Stipendium zu sichern und hat – damals noch im Alleingang und über ihren Träger, die Eichhof-Stiftung – eine junge Medizinstudentin rekrutiert. Auch hier lautet der Deal: monatliche Überweisung einer kleinen dreistelligen Summe, nach Studium Anstellung im Haus; ein Mentoring-Programm ergänzt die Klinik-Student-Vereinbarung. Die Studentin, die sich auf den Handel eingelassen hat, ist gebürtige Osthessin, hat auswärts studiert, kommt nun für den Job zurück in ihre Heimat. Auch das vergleichsweise neue „Medizin-Plus“-Programm scheint Anklang zu finden: Mittlerweile
haben sich bereits drei Studierende in das Programm des Vogelsbergkreises eingeschrieben. „Wir sind auf einem guten und attraktiven Weg, aktiv dem Landarzt-Mangel entgegenzuwirken“, gibt sich Jens Mischak, Kreisgesundheitsdezernent, optimistisch. Weniger zuversichtlich bleibt dagegen Daniel Zehnich,
der Gesundheitspolitik-Experte der apoBank. Zwar beobachte auch er, dass die verschiedenen finanziellen und beratenden Unterstützungen, unter anderem der KVen, zum Thema Niederlassung Wirkung zeigten. Doch rufe die Infrastruktur auf dem Land auch weiterhin Bedenken gerade bei den Existenzgründern hervor: „Weniger Jobmöglichkeiten für den Partner, weitere Schulwege für den Nachwuchs, kaum Einkaufsmöglichkeiten und ein fehlendes Kulturangebot
spielen durchaus eine Rolle bei der Entscheidung.“ „Ja sicher, die Wege zum Supermarkt oder in die Schule sind vielleicht etwas weiter als in der Stadt“, entgegnet die junge osthessische Allgemeinmedizinerin, die nach Lauterbach zurückkehrt. „Aber ich weiß einfach, dass man auf dem Land sehr wohl und gut wohnen kann.“ Nach sieben Jahren Stadtleben freue sie sich auf ein „ehrliches und familiäres Umfeld“ – sowohl in dem ländlichen Krankenhaus als auch in der Dorfgemeinschaft. „Und für Kultur“, so sagt sie, „fahre ich dann auch gern mal in die nächstgelegene Stadt.“
Text: Romy König
Die vollständige Ausgabe der Zifferdrei finden Sie hier als PDF zum Download.