Enthüllungsjournalismus in Kliniken - Das Team Wallraff hat wieder zugeschlagen: schleuste sich in Krankenhäuser ein, filmte Pflegekräfte und Psychiatriepatienten. Das erklärte Ziel: für Aufklärung sorgen. Gegenwehr kommt von einem Rechtsexperten, für den Wallraff einst ein Held war.
Saskia Vollmer (Name von der Redaktion geändert) lächelt nur selten. Langsam nippt sie an ihrem Kaffee, sammelt ruhig Antworten auf die Fragen der Journalistin, in Gedanken ganz in der Klinik, in der sie als OP-Schwester arbeitet; ihre Stirn beständig in Falten gelegt. Es ist ein bedrückendes Gespräch. Um Perspektiven in der Pflege geht es, um ihre Liebe zu ihrem Beruf, um Mitarbeitermangel und Pflegeschlüssel, um Druck und Drill und Schweigegebote. Und dann hellt sich das Gesicht der knapp 50-Jährigen plötzlich auf: „Der Wallraff, wissen Sie, dieser RTL-Typ, der macht es richtig. Undercover in Kliniken einzusteigen, um mal so richtig die Zustände zu zeigen.“
„Die Zustände“. Das sind, betrachtet durch die Kameralinse manch eines Investigativreporters, oft diese: Hygienemängel in Kliniken, überforderte Pflegemitarbeiter, harscher Umgang mit Patienten oder Heimbewohnern. Erst vor wenigen Monaten hat sich ein Team des Journalisten Günther Wallraff in psychiatrische Einrichtungen eingeschleust; die so entstandenen Berichte sollten auf Missstände aufmerksam machen.
Tatsächlich war nach Ausstrahlung der ersten Sendung im März einiges in Bewegung gekommen: Die Kliniken Frankfurt-Höchst wiesen die gezeigte Berichterstattung zwar als „stark verkürzt“ und „aus den individuellen Zusammenhängen sowie Krankheitsbildern gerissen“ zurück, sagten aber auch, „intern intensiv aufklären“ zu wollen, und „Missständen – sollten sie vorhanden sein – vorbehaltlos“ nachzugehen. Auch das hessische Sozialministerium versprach gründliche Aufklärung und, wo nötig, Konsequenzen.
„Heimliches Filmen, sich als Pflegepraktikant ausgeben, um Zugang zu geschlossenen Bereichen zu erhalten – es braucht solche Methoden, um für Veränderungen zu sorgen“, ist Krankenschwester Vollmer überzeugt. Sie, die sich nicht gehört fühlt und nicht gesehen, geschweige denn ernst genommen, hat das Gefühl, hier ist endlich mal einer, der für sie in die Bresche springt, der für sie spricht. Wallraff – der Held einer „Armee der Unsichtbaren“, wie einst die ZEIT über ihn in ähnlichem Zusammenhang schrieb.
Es ist nicht die erste Enthüllungsoffensive, die der heute 76-Jährige im Gesundheitssektor zündet. Schon 2015 schleuste sich eine Mitarbeiterin seines Teams als vermeintliche Pflegepraktikantin undercover in drei Einrichtungen ein, recherchierte auf diese Weise in Kliniken in München, Wiesbaden und Berlin-Buch. Nach Aussage des Senders RTL, bei dem die Berichte anschließend ausgestrahlt wurden, ging das sogenannte „Team Wallraff“ damit „zahlreichen Hinweisen von Krankenschwestern, Pflegern und Ärzten“ nach. Die Recherche dauerte 14 Monate – und brachte Ausbeute: vermeintliche Hygienemängel, Personalmangel, so das Fazit der Berichterstattung.
„Immer mit dem Ziel, die Wahrheit ans Licht zu bringen“
2016 erhielt Wallraff bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises für seine Arbeit den sogenannten Ehrenpreis der Stifter, die Begründung der Jury: Er recherchiere, dokumentiere und provoziere, „immer mit dem Ziel, die Wahrheit ans Licht zu bringen und nachhaltige Konsequenzen einzufordern“.
Einer, der das anders sieht, ist Jan Mönikes. Der Berliner Jurist ist spezialisiert auf IT-, Medien- und Urheberrecht, und er vertritt Mitarbeiter und Patienten zweier Kliniken bzw. Klinikverbünde, auf deren psychiatrischen Stationen sich die Wallraff-Journalisten im vergangenen Jahr eingeschleust haben. „Natürlich“, sagt er, „habe ich grundsätzlich nichts gegen Berichte, die Missstände aufdecken.“ Im Gegenteil: Kritik an unhaltbaren Zuständen, ob in Firmen oder in Kliniken, brauche es für die Demokratie, für eine offene Meinungsbildung. Und wenn solche Berichte die Kliniken auch empfindlich stören mögen – sie müssten damit leben. „Ganz klar: Investigativer Journalismus ist wichtig“, bekräftigt er. Doch er sagt auch: „Es gibt Grenzen.“
Hochgeschraubte Transparenz
Zumal sich schon so viel bewegt habe: „Ärzte sind doch längst nicht mehr die Halbgötter in Weiß, die Patienten sind doch schon heute mündiger.“ Kliniken hätten Patientenbeiräte etabliert, veröffentlichten Qualitätskennzahlen. „Die Transparenz der Kliniken wurde in den letzten Jahren massiv hochgeschraubt.“ Auch der Gesetzgeber tue einiges dafür, dass Unternehmen und Organisationen, so auch Kliniken, weniger hinter verschlossenen Türen agieren könnten: Der Schutz von „Whistleblowern“ etwa wurde ausgeweitet. „Alles, was Mitarbeitern oder Patienten nicht passt, wird schon heute von den Betroffenen mit ihren Handykameras aufgezeichnet, wenn sie die Öffentlichkeit suchen.“
Die Grenzen des Arztes sind die Grenzen des Journalisten
Doch gerade im Gesundheitssektor gebe es Bereiche, die sich „ganz bewusst und aus guten Gründen“ den Blicken der Öffentlichkeit entziehen, so Mönikes. Nicht umsonst dürfe etwa im Behandlungszimmer nicht gefilmt werden, dürften Patientendaten nicht frei weitergegeben werden. „Die Schweigepflicht des Arztes ist ein hohes Gut“, so der Jurist. Die habe auch der Journalist zu würdigen. „Die Grenzen, die für den Arzt gelten, hat auch der Journalist zu respektieren.“
Die Einführung der Datenschutzgrundverordnung habe die Situation einmal mehr verschärft: Seither dürften Ärzte zum Beispiel auch im Empfangsbereich ihrer Praxis keine Kameras laufen lassen; selbst im Aufwachraum eines Krankenhauses, wo sie ja eigentlich lediglich der Überwachung der Narkose-Patienten und damit deren Sicherheit dienten, seien die Aufnahmegeräte ohne Datenschutzfolgeabschätzung nun verboten. Mönikes: „Und nun spaziert da jemand, getarnt als Pflegepraktikant, in eine Klinik hinein und lässt permanent, und das über einen Zeitraum von Wochen, heimlich eine Kamera mitlaufen? Das kann nicht legal sein.“ Der Rückgriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit – schließlich handelte es sich bei den Filmern um Journalisten – funktioniere hier nicht, argumentiert Mönikes: „In dem Moment, da sich der Reporter als medizinische Kraft einstellen lässt, als solche eine Datenschutzverpflichtung unterschreibt, fällt sein Tun unter die Regeln, nach denen alle medizinischen Angestellten handeln müssen. Das Patientengeheimnis gehört dazu.“
In der Psychiatriestation eines Krankenhauses gelten diese Regeln laut Mönikes besonders. „Wenn sich ein Reporter Zugang zu einem Altenheim verschafft, hier auf den Fluren filmt oder Fotos macht, würde juristisch vielleicht noch abgewogen, könnte dem Artikel 5 des Grundgesetzes, der Meinungsfreiheit, vielleicht Vorrang eingeräumt werden.“ Immerhin seien diese Bereiche auch Besuchern öffentlich zugänglich. Doch eine Klinik, eine geschlossene psychiatrische Station zumal, sei ein besonders schützenswerter Raum. „Schon die heimliche Aufnahme an sich kann hier eine Straftat sein“, sagt Mönikes. „Selbst bei Verpixelung ist ihr Gebrauch verboten.“
Für heikel hält der Rechtsexperte vor allem den Umstand, dass viele der gefilmten Patienten mit Angststörungen und Wahnvorstellungen zu kämpfen hätten. „Die haben ohnehin krankheitsbedingt das diffuse Gefühl, sie würden ständig beobachtet, ständig kontrolliert. Nun scheint sich diese Ahnung auf perfide Weise in der Realität zu bestätigen.“ Psychiatriepatienten lebten nicht in einem Kokon, sondern würden durchaus erfahren, was in der Welt vor sich geht. „Die schauen doch auch fern, checken Youtube-Videos auf ihren Smartphones.“ Von den Wallraff-Recherchen in der eigenen, intimen Umgebung „haben die alle erfahren“, so Mönikes.
Für einige von ihnen sowie für deren Betreuer, aber auch für betroffene Mitarbeiter zieht er nun vor Gericht: klagt auf Unterlassung, hat Strafanträge gestellt und die Datenschutzaufsichtsbehörden informiert. „Viele der Betroffenen reagieren auf die versteckte Kamera sehr empfindlich und fühlen sich als Opfer eines ‚Spitzeljournalismus‘“, erklärt er gegenüber zifferdrei, „besonders, da ihnen das Team Wallraff alle Auskünfte und Betroffenenrechte pauschal abspricht.“ Das Landgericht Leipzig habe einem der Wallraff-Reporter bereits vor Ausstrahlung der ersten Sendung das Gebrauchen heimlicher Aufnahmen eines der Patienten per einstweiliger Verfügung untersagt. „Weitere Verfahren laufen noch.“
Schon einmal trafen sie, Jahre ist es bereits her, in einem Verfahren persönlich aufeinander: Wallraff, der investigative Reporter, Mönikes, der Medienrechtler, der von sich sagt: „Ich stehe grundsätzlich auf der Seite der Meinungsfreiheit.“ Wallraff, auch das erzählt Mönikes, war einst für ihn ein Held: „In meiner Jugend habe ich alle Bücher von ihm gelesen, ich mochte, was er tat, seine Einstellung, seinen Mut.“ Nun aber sei der Reporter seiner Meinung nach zu weit gegangen.
„Wer will nach solchen Berichten noch Pfleger werden?“
Auch in Pflegekreisen freut man sich nicht geschlossen über die vermeintlichen Heldentaten des Wallraff-Teams. Zwar applaudieren in den diversen Social-Media-Kanälen einige Zuschauer, „bedanken“ sich „für die Aufklärung“, unter ihnen auch – nach eigener Aussage – einige Pflegemitarbeiter. Doch gibt es auch andere Stimmen: „Reportagen wie solche helfen uns nicht“, sagt etwa die Stationsleiterin einer rheinland-pfälzischen Klinik (Name der Redaktion bekannt): „Medienberichte zeigen doch oft nur einen Ausschnitt dessen, was auf einer Station passiert, setzen die Situation nicht in einen Kontext.“ Neulich sei etwa ein Patient mit einer Glasscherbe auf sie und ihre Kollegin losgegangen. Er hatte gerade eine OP hinter sich, war delirant, konnte nicht klar denken. „Den haben wir dann eine Weile zu zweit festhalten müssen.“ Hätte hier ein Journalist die Kamera draufgehalten, so sagt die Pflegerin, und den Zusammenhang nicht erläutert, hätten Zuschauer anschließend falsche Schlüsse ziehen können. Zudem ist die Fachkraft der Ansicht, solche Berichte werfen ein schlechtes Licht auf ihren Beruf, schadeten dem Image der Pflege. „Wer will nach solchen Berichten noch den Pflegeberuf erlernen?“
Konstruierte Wirklichkeiten
Doch es ist vor allem auch die Machart der Berichte, die den Juristen Jan Mönikes stört: „Hier werden Situationen skandalisiert, werden Szenen aus dem Kontext gerissen, wird ein Missstand künstlich konstruiert.“ So seien etwa Inhalte montiert und Informationen, die eine Szene für den Zuschauer hätten einordnen können, bewusst unterschlagen worden: „Da gibt es die Szene, in der ein Bewohner in die Ecke eines Raums uriniert und die Pflegerin sich weigert, das wegzumachen – selbst nach Stunden, wie die Aufnahmen suggerieren“, so Mönikes. „Stark verpixelt und mit verfremdeter Stimme herrscht die Schwester den Patienten an, zuckt später teilnahmslos mit den Schultern und erklärt dem als Praktikant auftretenden Wallraff-Mitarbeiter selbst auf Nachfrage nur, dass sie das nicht wegmachen wolle, weil sie sich vor Urin ekle.“ Die Assoziationskette im Kopf des Zuschauers springt sofort an: unhygienische Zustände, desinteressiertes oder überfordertes Personal. Tatsächlich aber, sagt Mönikes, sei die ganze Szene verfremdet und montiert worden, zeige also nicht die Wirklichkeit: „Die Pflegekraft, die man da mit den Schultern zucken sieht, hat mit dem Geschehen rund um den Urin überhaupt nichts zu tun.“ Und auch eine weitere Mitarbeiterin wehre sich bereits vor Gericht. Der Wallraff- Bericht habe in ihrem Fall suggeriert, sie hätte einem Patienten heimlich eine Tablette aufs Brötchen geschmuggelt. Tatsächlich aber sei diese Maßnahme als Schluckhilfe gedacht gewesen – abgesprochen mit den Angehörigen. Eine Erläuterung, die im Film fehlt.
Mönikes hält dieses Vorgehen, „diese bewusste Montage und das Weglassen von Informationen“ für wahrheitsverzerrend, ausgerichtet auf eines: den bloßen Effekt. „Die Ärzte und Mitarbeiter einer Klinik, aber eben auch die Patienten selbst geraten so zur Staffage“, so Mönikes. Sie würden benutzt, um einen Skandal zu konstruieren, wo keiner sei. Auch spricht er von Filmsequenzen, die so montiert seien, dass sie Aufnahmen von Missständen suggerierten, die sich aber in Wirklichkeit so nicht abgespielt hätten. „Die sind vielleicht gut für die Einschaltquote, aber weder seriös noch legal.“
Etwaige Unsauberkeiten im Schnitt waren auch schon Journalisten von Spiegel Online aufgefallen: In zwei aufeinanderfolgenden Szenen, die so geschnitten sind, dass der Eindruck entsteht, sie seien auch in der Realität direkt hintereinander erfolgt, liegt in der einen Schnee, in der zweiten plötzlich keiner. Als die Journalisten RTL damit konfrontierten, gab der Sender zu, dass zwischen den zwei gezeigten Szenen tatsächlich eine ganze Nacht liege. Doch für die Dokumentation, so betonten die TV-Macher, sei dieser Umstand unerheblich.
Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, wie die Gerichte über die „Gemengelage aus Pressefreiheit und Datenschutz, Patientengeheimnis und Persönlichkeitsrecht“, wie Mönikes es formuliert, denken. Schon die in früheren Jahren gesendeten Wallraff-Berichte nahmen die betroffenen Kliniken nicht klaglos hin: Zwar räumten die Verantwortlichen teils Nachholbedarf ein, doch kritisierten sie die getroffenen Aussagen der Sendung auch als „zu pauschalisiert“. Der Helios-Konzern und die Marseille- Kliniken gingen im Anschluss an die Sendung gerichtlich gegen RTL und das Produktionsunternehmen vor. RTL ist es seither untersagt, Teile der Sendung erneut zu veröffentlichen oder zu verbreiten.
Was bislang im aktuellen Fall bleibt: Patienten und Klinikmitarbeiter, die sich, so Mönikes, als „Opfer“ sehen statt als Gerettete, und die den Kampf aufnehmen gegen einen Mann, der doch vermeintlich für sie spricht, für sie agiert, für sie aufdeckt. So viele Anwaltsschreiben habe er noch nie bekommen, sagte Wallraff schon vor der Ausstrahlung des aktuellen Beitrags. Mönikes: „Wie sich doch die Zeiten ändern – auch für Helden.“
Text: Romy König
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